Sonntag, 6. Februar 2011

Sie wollen alle Marktchancen nutzen? - Folgen Sie den Jagdbombern und endkoppeln Sie Ihre Organisation!

Ein privater Fernsehsender will zusätzliche Werbeeinnahmen realisieren. Bei einer ersten Analyse erkennt man schnell nicht ausgebuchte Werbeinseln als zusätzliches Erlöspotenzial.

Ist ein Werbeblock nicht ausreichend gebucht, sollen Maßnahmen zur kurzfristigen Vermarktung angegangen werden. Ziel ist es kurzfristig, zu reduzierten Preisen Werbespots zu akquirieren, die die entstandene Lücke füllen können.

Verantwortlich für diese Aufgabe wird ein neu gegründeter Bereich, die so genannte Kurzfristvermarktung. Um erfolgreich zu sein, kommt es hier darauf an, kurzfristig auch unorthodoxe Lösungen für den Kunden zu entwickeln, zu Konditionen weitab jeder Preisliste.

Entscheidender Steuerungsfaktor für die Arbeit des Bereichs ist die zur Verfügung stehende Werbezeit. Ist sie überbucht, steigen die Preise. Ist sie unterbucht, sinken sie. Das wissen die Kunden natürlich. Ihr Verhalten erinnert an eine online-Auktion. Je nach Preisstand buchen die Kunden ein oder wieder aus - auf einen niedrigeren Preis hoffend. Die Belegungen ändern sich hierdurch zum Teil im Minutentakt.

Ganz anders arbeiten die übrigen Abteilungen im Sender. Fernsehproduktionen haben eine lange Vorlaufzeit. Rechte müssen eingekauft werden, entsprechendes Material muss produziert werden. Hierzu ist eine Vielzahl von Personal zu koordinieren, knappe Ressourcen wie Kameras und Schnittplätze müssen auslastungsoptimiert disponiert werden. All das erfordert eine sorgfältige, langfristige, eng aufeinander abgestimmte Planung. Fehler in dieser Planung können extreme Folgen haben: Im Zweifelsfall fehlt tatsächlich entsprechendes Sendematerial und der Bildschirm bleibt schwarz.

Die Kurzfristvermarktung mit ihrem hektischen Börsengeschäft und die langfristig ausgelegte, auf Sicherheit zielende Programm- und Sendeproduktion passen damit nicht wirklich zusammen. Viel zu groß ist die Gefahr, dass die Kurzfristvermarktung mit ihren spontanen Umbuchungen das langfristig ausgelegte Produktionsgeschäft des Senders durcheinander bringt.

Beide Bereiche müssen deshalb entkoppelt werden: Man überlässt der Kurzfristvermarktung die einzelnen, nicht ausgelasteten Werbeinseln und übernimmt diese, unbeachtet von ihrem Inhalt, als voll ausgebucht mit ihren Start- und Endzeitpunkten in den Programmplan. Der Kurzfristvermarktung obliegt es jetzt, die Insel so zu füllen, dass die Zeit zwischen Start-und Endpunkt ausgeschöpft wird. Hierzu verkauft sie kurzfristig Werbung. Gelingt es ihnen nicht, die gesamte Insel zu füllen, ist die Lücke mit entsprechenden Trailern zu füllen. Ist eine Insel überbucht, das heißt liegen mehr Werbespots vor als die Insel fassen kann, werden entweder Spots mit geringem Preis oder aber Trailer gelöscht. Diese Arbeiten werden von der Kurzfristvermarktung völlig autonom durchgeführt und im Sendeplan nicht nachverfolgt. Hier taucht lediglich die Insel mit ihren Start-und Endpunkt als Platzhalter auf. Die Kurzfristvermarktung übergibt dann die von ihr gefüllte Insel zum richtigen Zeitpunkt an die Sendeplanung.

Durch dieses Zusammenspiel ist gewährleistet, dass ein hoch flexibler, fehlertoleranter Bereich mit einem auf lange Sicht arbeitenden, fehlerfeindlichen Bereich zusammenarbeiten kann.

Das ist in bester Ordnung, denn:


Die Form der Koppelung von unterschiedlich taktenden Elementen/Bereichen einer Organisation ist extrem relevant für die Stabilität einer Organisation. Takten Elemente sehr unterschiedlich, kann eine enge Kopplung dieser die Organisation als Ganzes auseinanderreißen. Dies ist besonders relevant im Zusammenspiel von marktbezogen arbeitenden Abteilungen, die sich auf immer erratischer und volatiler agierende Märkte synchronisieren müssen, und den Produktions- und Abwicklungsbereichen eines Unternehmens, die langfristiger ausgerichtet arbeiten.

Ein hilfreiches Modell, mit diesen Fragen umzugehen, wird von Charles Perrow in seinem Buch "Normale Katastrophen - Die vermeidbaren Risiken der Großtechnik", Campusverlag, Frankfurt, New York, 1987, Seite 136 ff.  präsentiert.

Perrow analysiert hierzu komplexe technische Systeme wie Kernkraftwerke, Flugzeuge, großtechnische Anlagen etc. Seine Ergebnisse gelten aber nicht nur für technische Systeme, sondern im übertragenen Sinne genauso für Organisationen.

Perrows zentrale Idee besagt, dass die Struktur von Systemen/Organisationen, insbesondere die Koppelung zwischen Ihren Elementen, entscheidend für ihre Stabilität und Effizienz ist. 

Ein klassisches Beispiel ist der Übergang von der Boeing 707 zum Airbus: Während die Boeing 707 durch die V-Form ihrer Flügel und das dicke Tragflächenprofil in hohem Maße stabil war und sich auch ohne Pilot in der Luft gehalten hat, wurde beim Airbus durch ein überkritisches Tragflächenprofil eine enge Kopplung zwischen Steuerung und Stabilität hergestellt, die nur in einem schmalen Bereich ein stabiles Verhalten des Flugzeugs garantiert.

Steuert man das Flugzeug aus diesem Bereich (zum Beispiel durch eine steile Kurve), reagiert der Flieger sofort kritisch und übersteuert schon auf minimale Ausschläge des Ruders, so dass er für einen Menschen nicht mehr beherrschbar wird.

Das System wird deshalb künstlich entkoppelt und zwischen Mensch und Maschine ein Computer gesetzt (fly by wire), der die Steuerausschläge des Piloten so übersetzt, dass die Maschine stabil bleibt.

Sinn dieser Auslegung der Maschine ist die Wirtschaftlichkeit des kritischen Tragflächenprofils. Es erzeugt in einem hohen Maß weniger Luftwiderstand als das alte Profil der Boeing 707, zeigt aber eben auch ein kritischeres, instabiles Verhalten. Bei der amerikanischen F16, einem in vielen Luftwaffen verbreiteten Jagdbomber, ist die Maschine sogar so ausgelegt, dass sie ohne Computer gänzlich unsteuerbar ist, da sie kontinuierlich im instabilem Bereich fliegt. Gewonnen wird hierdurch eine unvergleichbar hohe Flexibilität und Agilität der Maschine.

Von besonderer Bedeutung sind diese Ergebnisse für die Gestaltung von Organisationsstrukturen und IT - Architekturen: So kann die zur Zeit gerade propagierte, enge Vernetzung von IT Systemen dazu führen, dass das Gesamtsystem der IT-Plattform zu eng gekoppelt und damit instabil wird.

Frühe Beispiele aus dem Bereich der Produktionsplanung zeigen, dass der Versuch, ein solches eng gekoppelten System zu betreiben, zum Scheitern verursacht ist, da die Kontroll- und Führungsaufwände (sie sind umso höher, je enger ein System gekoppelt wird) ins unermessliche wachsen. Dieses gilt umso mehr,  wenn versucht wird, die auf einen volatilen Markt ausgerichteten Vertriebsbereiche eng mit den langfristig orientierten Produktionsbereichen eines Unternehmen zu integrieren.

Aus diesem Blickwinkel sind die aktuellen Bemühungen der Technologieanbieter, die bestehenden Systeme über serviceorientierte Systemarchitekturen zu integrieren (ESA SOA), insbesonderen in der Koppelung CRM/ERP, durchaus kritisch zu sehen.

Wichtig ist es hier, gezielt lose Kopplungen in die Architektur mit einzubauen.

Ziel ist es dabei nicht, enge Kopplung gänzlich zu vermeiden, sie sind zu wichtig für die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens. Es geht vielmehr darum, an der richtigen Stelle lose Kopplungen einzubauen, die die Flexibilität und Stabilität des Systems wiederherstellen.

Diese Kopplungen können durchaus mobil organisiert sein, das heißt nur in kritischen Zuständen eingreifen. Ein Beispiel für eine solche mobile Organisation von losen Kopplungen ist das ESP System bei Autos, das nur eingreift und die direkte Verbindung von Bremse und Gaspedal zu den Rädern trennt, wenn das Auto in einen kritischen Zustand kommt. Sind Bremsen und Gas im normalen Verlauf eng gekoppelt, entkoppelt das ESP sie beim Schleudern von den Steuerbefehlen des Fahrers und übernimmt zum Teil selber die Regie.

Die hohe Kunst der Organisationsarchitektur ist es, ein solches System auch im Unternehmen umzusetzen. Im Beispiel des TV Senders heißt das auf der einen Seite, in der Produktion eine hohe Wirtschaftlichkeit durch langfristige Planungen zu realisieren, auf der anderen Seite, mittels einer nur lose gekoppelte Marktbearbeitung alle Chancen in einem volatilen  Markt zu nutzen, ohne den Sender in „Unordnung“ zu bringen

Anwendung:

1.) Überlegen Sie sich Ihre Ziele. Worum geht es Ihnen? Um maximale Effizienz, um ein flexibles Reagieren auch auf bisher unbekannte Marktanforderungen, oder um beides?

2.) Prüfen Sie mit diesen Zielen im Hinterkopf die einzelnen Bereiche ihres Unternehmens. Wo möchten Sie Flexibilität? Wo Toleranz gegenüber Fehlern? Wo maximale Effizienz?

3.) Je effizienter ein Bereich gestaltet sein soll, desto enger sollten die einzelnen Bestandteile dieses Bereichs miteinander gekoppelt sein. Maximale Wirkung erzielen sie, wenn sie den Bereich so gestalten, dass er kritisch wird. Das bedeutet, dass die Auswirkungen einer Veränderung in den einzelnen Bestandteilen auf andere Bestandteile dieses Bereichs exponentiell sind. Dieses erhöhte zwar ihren Steuerungsaufwand, steigert aber auf der anderen Seite ihre Effizienz maximal.

4.) Je toleranter gegenüber Fehlern, je flexibler und stabiler gegenüber unvorhergesehenen Ereignissen ein Bereich gestaltet sein soll, desto loser müssen Sie die Einzelelemente dieses Bereichs miteinander koppeln. Achten Sie insbesondere auch darauf, dass die Auswirkungen dieses Bereichs auf einen  anderen Bereich ihres Unternehmens nicht exponentiell gestaltet sind.

5.) Prüfen sie jetzt, wie die neu gestalteten Bereiche ihres Unternehmens selbst miteinander vernetzt sind. Ein Bereich mit maximaler Toleranz gegenüber Fehlern sollte nicht direkt an einen Bereich mit maximaler Effizienz gekoppelt sein. Hier müssen Sie Zwischenpuffer einbauen, die sicherstellen, dass Änderungen in dem fehlertoleranten Bereich nicht auf den eng gekoppelten Effizienzbereich durchschlagen.







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